Hat die Welt keine anderen Sorgen? Warum zieht die Rettung von 33 Bergarbeitern aus einer gottverlassenen Mine den halben Globus in Bann? Warum campieren 1700 Journalisten tage- und wochenlang vor einem Bohrloch in der Atacamawüste? Warum rücken allein aus Japan 30 TV-Teams nach Chile aus, warum strahlt der ORF mitten in der Nacht eine Sondersendung aus? Warum widmet „Die Presse“ dem Thema drei Seiten?
Es mag eine Prise Medien-Hype dabei sein, diese eigentümliche Sogwirkung, der sich kaum jemand entziehen kann, sobald ein Ereignis eine bestimmte Größe erreicht hat. Letztlich aber kann nur eine außergewöhnliche Geschichte eine derartige Faszination auslösen. Und dies ist eine außergewöhnliche Geschichte. Ihre geradezu archaische Kraft bezieht sie aus ihrer Einfachheit, ihrer Dramatik aus Bangen, Hoffen und Erlösung. Großes Gefühlskino eben. Die Metaphorik ist unschlagbar: 33 Männer, die in mehr als 600 Meter Tiefe begraben waren, feiern nach 69 Tagen ihre Wiederauferstehung. Sie kommen ans Licht wie Lazarus, steigen auf wie „Phönix“, der mythische Namensgeber der Rettungskapsel.
Nicht von ungefähr lauteten die ersten Titel der Story fast unisono: „Das Wunder von San José“. Doch zu danken ist es nicht nur Gott, dem einer der ersten Geretteten, der Redseligste von allen, die Reverenz erwiesen hat, sondern auch der Technik. Die Rettung wird auch zum Wunder der Technik stilisiert. Ein „Superbohrer“ war nötig, um einen derart tiefen Rettungsschacht zu graben. Ganz Chile ist stolz auf diese Leistung. Der angereiste Präsident des Landes, Sebastián Piñera, der das Spektakel und die damit verbundene Aufbruchsstimmung ausgiebig für seine politischen Zwecke nützt, leitet daraus einen Auftrag ab: Chile werde künftig alle Probleme mit einer derartigen Präzision lösen. Die patriotische Aufwallung ist erstaunlich. „Chile“ steht in breiten Lettern auf der Rettungskapsel, die Kumpel sangen schon unter Tag aus staubtrockenen Kehlen die Nationalhymne und rührten damit nicht nur die eigenen Landsleute. 33 Menschen, eingeschlossen unter der Erde: Das Gruppenverhalten unserer Spezies kann da wie in einer Versuchsanordnung studiert werden. Einer teilt die Essensrationen ein, der andere organisiert Licht, andere halten die Stimmung hoch. Gemeinsam schaffen sie es. Auch das macht die Anziehungskraft dieser Geschichte aus. Kaum hatten die Bergleute ihr erstes Lebenszeichen gegeben, gelangte über einen schmalen Versorgungsschacht auch schon eine Kamera zu ihnen. Die mediale Inszenierung folgte phasenweise der Logik einer TV-Reality-Show. Es war wie „Big Brother“ in 600 Meter Tiefe, nur ohne Zynismus. Die Rivalitäten, die Beckmessereien, die es vermutlich auch gegeben hat, blieben ausgeblendet. Die Menschen da unten zeigten sich von ihrer besten Seite. Sie hielten zusammen, sie hielten durch.
Es waren unheimliche, düstere Bilder, die aus der Grube kamen, wie aus einem Schattenreich. Umso mehr ans Herz ging die bemüht fröhliche Stimmung, die die Kumpel mit ihren Nachrichten verbreiten wollten. Diese Disziplin, dieser unbändige Wille zur Hoffnung hatten etwas Heroisches.
Nein, billiger Voyeurismus war es nicht, der Zuschauer aus aller Welt vor die Fernsehschirme trieb. Sie wollten nicht das Scheitern der Rettungsaktion sehen. Sie wollten sich nicht am Unglück anderer weiden. Sie wollten sich mit den Bergleuten und deren Angehörigen freuen. Und viele werden auch vor Freude mit dem kleinen Buben mitgeweint haben, der nach 69 Tagen endlich wieder seinen Vater umarmen durfte. Die meisten lieben diese reinigenden Momente kollektiver Gefühlsentladung, deshalb gehen sie gern in Stadien, besuchen Konzerte oder nehmen teil an globalen Medienevents wie eben jetzt in Chile. Für solche Augenblicke mitfühlender Entgrenzung sollte sich niemand schämen.
Natürlich gibt es auf der Welt „wichtigere“ und folgenreichere Entwicklungen als die Rettung von 33 chilenischen Bergleuten in der Wüste von Atacama. Doch Menschen brauchen nicht nur Informationen, sondern hin und wieder auch Geschichten voller Pathos, die sie darin bestätigen, welche Kraft die Liebe und die Hoffnung verleihen können.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2010)